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Dumm-Maras Verwandlung

Diese Geschichte ist aus dem Buch „Rauhnächte“ von Harald Krassnitzer

Es war einmal ein Mädchen, das hieß Marie. Sie war sehr traurig, da ihr Bruder gestorben war, den sie sehr geliebt hatte. Ihr Vater war meist auf Reisen, ihre Mutter war schon lange tot und ihre Stiefmutter eine hartherzige Frau. Die Stiefmutter hieß ebenfalls Marie, und deshalb rief sie die kleine Marie nur Dumm-Mara.

So geschah es denn an einem kalten Wintertag, dass die Stiefmutter überlegte, wie sie der kleinen Marie eine schwere Aufgabe geben konnte. »Dumm-Mara!«, rief sie. »Geh, wasch die Kleider, damit sie für den Kirchgang sauber sind. Es ist kein Wasser im Haus. Du musst zum Brunnen.«

»Aber der Brunnen ist doch zugefroren«, sagte Marie.

»Komm mir nicht mit Ausreden, sonst wird es dir schlecht gehen!«, antwortete die Stiefmutter.

Also ging Marie mit der Wäsche zum Brunnen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, denn sie wusste wohl, dass man an den Rauhnachttagen nicht waschen soll – und wie sollte sie das auch tun, wo doch der Brunnen zugefroren war? So saß Marie am Brunnen und weinte.

Da brach das Eis, und aus der Tiefe des Brunnens kam ein warmer Hauch. Marie blickte in den Brunnen und sah eine golden glänzende Leiter, die in die Tiefe führte. Marie zögerte, doch dann fasste sie sich ein Herz und stieg hinab.

Als sie unten am Brunnengrund angekommen war, war dort ein kleines Bächlein, das munter plätscherte. Es floss durch ein kleines Tor, und dahinter war eine blühende Sommerwiese. Marie staunte und folgte dem Fluss des Bächleins. Den Korb mit Wäsche hatte sie noch auf dem Rücken. Sie nahm ihn ab und begann, die Kleider im Bächlein zu waschen. Da trat eine Frau auf sie zu, die war groß und strahlend, wie eine Königin.

»Kind, weißt du nicht, dass du in der Zeit der Rauhnächte nicht waschen darfst? Das ärgert die Frau Holle.«

Marie wurde rot und verneigte sich. »Verzeiht mir, Herrin. Ich weiß es wohl, doch meine Stiefmutter hat es mir befohlen.«

Die Dame sah Marie streng an. »Noch dazu wäschst du in meinem Bach. Auch das ist nicht erlaubt. Nun musst du bei mir bleiben und mir dienen.«

Marie dachte sich, dass es nicht schlimmer sein konnte als bei ihrer Stiefmutter, und so neigte sie den Kopf und folgte der Dame in ein großes Haus. Dort gab es viel zu tun: Zu putzen, zu kochen, zu spülen, zu backen und die Betten zu machen. Nur das Ausschütteln der Betten wollte die Herrin selbst tun: »Wenn ich die Betten schüttle, schneit es auf der Erde!«, sagte sie.

Marie tat fleißig alles, was ihr geheißen wurde, und die Herrin gewann sie lieb. Abends am Feuer erzählte sie Marie von Geheimnissen und wilden Dingen, auch von den Unterirdischen und den Himmlischen. Sosehr sich Marie auch bemühte, sich die Geschichten zu merken, so waren sie doch wie Träume, an die sich die Gefühle wohl erinnern, aber nicht die Gedanken.

Manchmal kamen wilde Reiter, und die Herrin ritt mit ihnen aus. Marie hütete dann das Haus, und da sie alles in Ordnung hielt, lobte sie die Herrin. Eines Tages sprach sie: »Marie, du hast mir gut gedient, und ich würde dich gern bei mir behalten, doch das geht nicht. Bevor du mich aber verlässt, will ich dir noch ein Geschenk machen. Tritt durch die Tür, die du bisher nicht öffnen durftest, mein liebes Kind.« Sie strich Marie zart über den Kopf, und Marie fühlte sich, als hätte ein Engel sie geküsst. »Denk an das, was dir am liebsten ist.«

Marie tat, wie ihr geheißen. Sie öffnete die Tür und trat in einen Garten, der war noch wunderbarer als alles, was sie bisher gesehen hatte. Jemand rief sie beim Namen, und ihr Herz machte einen Satz: Das war Johannes, ihr Bruder! Sie hatte sich gewünscht, ihn noch einmal wiederzusehen, und nun war er hier.

Die Geschwister fielen sich in die Arme, und Marie sah, dass ihr Bruder nicht mehr schwach und krank war, wie zu der Zeit, als er von ihr gegangen war – er sah stark und gesund aus, und aus ihm strahlte ein inneres Leuchten.

Als es dämmerte, verabschiedete sich ihr Bruder. »Hab keine Angst, Marie. Mir geht es so gut hier – und eines Tages wirst du wiederkommen und bei mir bleiben. Bis es so weit ist, werde ich immer über dich wachen und sehen, dass es dir gut ergeht!«

Marie weinte ein wenig, aber nicht sehr, denn die Worte des Bruders hatten sie sehr getröstet. Johannes nahm sie bei der Hand, führte sie zu einem Tor und gab ihr einen Abschiedskuss.

Als Marie durch das Tor trat, wurde es mit einem Mal ganz kalt, und sie stand vor dem zugefrorenen Brunnen. Ihr Korb mit der gewaschenen Wäsche stand auch dort, und zwischen den Kleidern funkelten Gold und Juwelen. Eilig sprang Marie nach Hause. Was würde wohl die Stiefmutter sagen – Marie war doch lange Zeit fort gewesen.

Doch die Stiefmutter wunderte sich gar nicht darüber, denn in der Welt außerhalb des Brunnens war nur eine Stunde vergangen. Sie wollte Marie schon ausschelten, da sah sie, dass nicht nur die Wäsche gewaschen war, sondern wie neu aussah – und dass der Korb voller wertvoller Edelsteine und Gold war.

»Ja, Dumm-Mara, wie hast du das gemacht?«, fragte sie und versuchte freundlich zu sein. Marie erzählte ihr alles.

Ohne weitere Worte zu verlieren, raffte die Stiefmutter alte, schmutzige Kleider zusammen und lief aus dem Haus, zum Brunnen. Aber der war zugefroren. Wütend schlug sie mit einem Stein auf das Eis, bis es brach. Tatsächlich: Da war kein Wasser, aber eine rostige Leiter. Sie stieg hinab und kam an das Bächlein am Grunde des Brunnens.

Sie folgte dem Bächlein ein Stück und begann, die schmutzigen, alten Kleider in den Bach zu halten. Da kam die Herrin und sah sie zornig an. Doch die Stiefmutter tat, als wäre sie ganz unterwürfig und gehorsam – und auch sie wurde zu dem großen Haus geführt, in dem sie dienen sollte. Doch sie wollte nicht dienen, sondern war begierig nach dem Gold und den Edelsteinen und tat, was ihr aufgetragen ward, nur halbherzig und widerwillig. Immer wieder versuchte sie, die Tür zu öffnen, die ihr die Herrin verboten hatte.

So dauerte es nur wenige Tage, bis die Herrin zu ihr sagte: »Du hast mir genug gedient. Gehe durch die Tür, durch die du immer gehen wolltest. Sie ist nun offen. Denke an das, was du dir wünschst – und du wirst deinen Lohn erhalten.«

Ohne weitere Worte wandte sich die Stiefmutter um und öffnete die Tür. Doch da war kein zauberhafter Garten, sondern ein düsterer Sumpf, in dem Feuer loderten und unheimliche Geister sie mit roten Augen anstarrten.

Viele Tage irrte die Stiefmutter umher, bis sie an ein Tor kam. Dort stand die Herrin, doch zweimal so groß wie zuvor.

»Wisse, Elende, dass ich die Frau Holle bin, die Herrin der Unterwelt. Dein schlechtes Herz hat sich seinen Lohn geholt. Und nun hinaus mit dir!«

Das Tor sprang auf, und die Stiefmutter wurde wie von der Hand eines Riesen hinausgeschleudert. Mit zerzaustem Haar, zerrissenen Kleidern und einem Korb voll schmutziger Wäsche stand sie wieder vor dem zugefrorenen Brunnen. Langsam ging sie nach Hause.

Doch ihr Herz war nicht ganz böse, sonst wäre sie nicht so leicht davongekommen. Von Stund an hieß sie die kleine Marie nie mehr Dumm-Mara, sondern nur das Goldmariechen, und behandelte sie wie ihr eigenes Kind. Und im Laufe der Zeit gewannen sich die beiden sogar lieb.

Marie aber lebte lange und glücklich, und immer, wenn sie doch einmal traurig wurde, dachte sie an Frau Holle und an Johannes, ihren Bruder, der immer über sie wachte und den sie eines Tages wiedersehen würde.

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