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Der Anti-Macho

Ich kann bei mir selbst und in der Gesellschaft eine Tendenz beobachten, deren bewusstes Erkennen mir elementar erscheint auf dem Weg zur Stärkung einer natürlichen Männlichkeit: Der Anti-Macho. Ich nenne ihn bewusst so und nicht Mr. Nice Guy, wie er anderorts genannt wird. Denn der Anti-Macho wurzelt meiner Einschätzung nach viel weniger auf der Motivation, nett zu sein als auf der Ablehnung von Aggression. In der subjektiven Biografie eines Mannes geht es meist um die Ablehnung des Vaters und anderer männlicher Vorbilder. Der Schmerz aus der Kindheit durch den Vater oder andere Männer veranlasste sie, diese männlichen Aspekte, sprich die Aggression, abzulehnen. Getrieben wurde dieser Prozess bei Jungen und und jungen Männer durch die Sozialisierung durch emanzipierte Frauen und daran angepasste Männer. Aggression – eine evolutionär wertvolle Kraft basierend auf Testosteron – wird gleichgesetzt mit Gewalt, Krieg und Zerstörung. Somit wird die Aggression als negativ angesehen und den Jungen in der Erziehung konsequent abtrainiert.

Innere Spaltung

Ich beobachte es überall und erwische mich selbst als Vater dabei, wie ich meine Söhne massregle, sobald sie Aggression zeigen. So werden sie konditioniert darauf, diese Kraft zurückzuhalten. Sie lernen, Aggression abzulehnen. Und die Ablehnung der eigenen Aggression führt zur Abspaltung dieser von der eigenen Persönlichkeit. Die Aggression wird in den Schatten geschoben. Und das Paradox: Im Schatten wächst und gedeiht die Aggression zu genau jenem ungesunden Verhalten, welches eigentlich abgelehnt wird. Aus dem Schatten heraus, unbeobachtet und heimlich agiert sie zerstörerisch, sucht sich ihre Wege intrigant und manipulativ. Dies durfte ich an mir selbst wieder und wieder erfahren. Oder das Fass überläuft irgendwann und die verneinte Aggression zeigt sich in unkontrollierten, zerstörerischen Ausbrüchen oder aber in Selbstzerstörung. Als Mann sind es die 1000 Male, in denen er eine Verletzung seiner Integrität einfach hingenommen hat, in denen er aus Angst vor Konflikten oder vor Liebesentzug, oder weil er sich die Aggression selbst nicht erlaubt, seine Wut nicht offen gezeigt und zugelassen hat. Es sind die 1000 Male, in denen er nicht auf den Tisch geschlagen hat, aufgestanden ist und geschrien hat: „Es reicht – sei still oder gehe!“. Oder: „Nein – das lasse ich mir nicht gefallen!“ Oder: „Nein, ich will das nicht!“ Und ich stelle die Fragen: Wäre es nicht gesünder gewesen, dies zu tun? Und zwar für alle Beteiligten? Hast du es schon mal gemacht? Waren die Folgen negativ?

Es braucht immer zwei

Mann und Frau stehen in einer Beziehung zueinander und erschaffen sich gemeinsam eine Welt. Und so gibt es das Pendant zum Anti-Macho auf der weiblichen Seite: Hier geht es weniger um Aggression, sondern um Manipulation. Ich traf bisher wenige Frauen, die sich selbst und mir als Mann gegenüber offen dazu standen, dass sie zur Manipulation neigen. Jene bewussten Frauen, welche mir dies offenlegten, waren umso klarer und radikaler in ihren Aussagen, als ich es bin. Wie die Aggression hat auch die Manipulation einen negativen Stellenwert, obwohl sie einfach existiert und zur Stärkung eingesetzt werden kann. So passiert bei der Frau dasselbe wie beim Mann: Die Manipulation wird abgelehnt und in den Schatten, in die Unsichtbarkeit geschoben und wirkt von dort aus umso stärker, aber schwerer wahrnehmbar. Ein Beispiel: Viele Frauen neigen zur Aufopferung und Selbstaufgabe für den Mann und die Familie. Dieses Verhalten wird als grundsätzlich positiver, mütterlicher Charakterzug dargestellt und ohne Eigennutzen. Und im Wort „mütterlich“ liegt bereits das Problem: Denn eine Mutter gibt sich aus natürlichem Instinkt auf für ihr Kind, sollte dies aber auf keinen Fall für ihren Mann tun. Denn mit der Selbstaufgabe stellt sich die Frau über ihr Gegenüber. Das ist auch richtig so – bei ihrem Kind. Der Selbstaufgabe für andere, erwachsene Menschen liegt kein gesunder Antrieb zugrunde. Im Gegenteil: Die Selbstaufgabe ermöglicht Kontrolle und Macht über das Umfeld, ist ein Ablenken von sich selbst, und bringt die anderen in die Schuld.

Scheinlösung Unabhängigkeit

Für viele Männer und Frauen ist die Lösung aus dieser Situation schliesslich der Weg in die Unabhängigkeit, ins Alleinsein. Doch diese Scheinlösung ist oft nichts anderes als die andere Seite der Medaille der Selbstaufgabe oder der Dominanz. Und ist ebenfalls nicht erfüllend. Denn weder die Frau noch der Mann können ohne (Ver)Bindung ihre weiblichen (Hingabe, Weichheit, Aufnahme, Ausgleich) bzw. männlichen (Mut, Ehrlichkeit, Selbstdisziplin, Initiative) Eigenschaften wirklich leben und sich entwickeln. Erst im Spiegel des anderen erkenne ich mich selbst. Und so ist die Unabhängigkeit oft ein Deckmantel über die eigenen Schatten.

Vom Schatten ins Licht

Für Mann und Frau gilt: Solange wir Wesensanteile oder Prägungen Verneinen und in den Schatten abschieben, sind wir gespalten und per Definition nicht ganz, nicht vollständig. So macht es keinen Unterschied für unser eigenes (Un-)Glück, ob wir in einer Beziehung sind oder vermeintlich unabhängig. In der Nähe zu anderen zeigen sich die Schatten jedoch stärker und es ist schwieriger, sich zu belügen. Und das ist hilfreich für die Entwicklung. Denn eine Heilung kann erst stattfinden, wenn wir unsere eigenen Prägungen anerkennen. Es geht insbesondere um jene Prägungen, welche vor der eigenen Denkfähigkeit eingepflanzt wurden. So habe ich beispielsweise erkannt, dass ich gelernt habe, dass eine Frau mein Besitz ist, für mich dazusein und mir zu dienen hat. Andere Männer erkennen bei sich zuerst den anderen Pol: Dass sie gelernt haben, brav zu sein, die Führung der Frau zu überlassen und Befehle entgegenzunehmen. Eine Frau kann erkennen, dass sie so konditioniert wurde, dem Mann zu dienen und sich selbst völlig aufzugeben. Oder aber dass sie den (einfältigen) Mann zu dominieren und manipulieren hat. Und bei beiden Geschlechtern gilt: Beide Pole können gleichzeitig in uns wirken wie in einem Ping-Pong-Spiel, denn sie sind die zwei Seiten der gleichen Ablehnung unserer Schatten. Und beide Geschlechter sehen sich als Opfer und werden aus dieser Haltung oft zu verzweifelten Täter. Anstatt zu erkennen, dass sie im Gegenüber nichts anderes als die Manifestation ihrer eigenen Prägungen, Ihrer Schatten erleben. Diese Ausprägungen sind am Ende zwei Seiten eines Machtkampfes zwischen den Geschlechtern, denn sie haben eine zentrale Eigenschaft gemeinsam: Sie verunmöglichen die Begegnung auf Augenhöhe.

Die Aggression begrüssen

Ich bin überzeugt, dass in der Anerkennung der eigenen Aggression ein wichtiger Schritt zur Stärkung des Männlichen liegt. Dies beginnt dabei, sie grundsätzlich einmal wahrzunehmen und sogar zu begrüssen. Und dann mutig die Aggression in dem Moment (kontrolliert) zulassen, wo sie entsteht und ihr Raum zu geben, statt sie herunterzuschlucken. Falls dir das schwer fällt (wie mir auch), stellt sich die Frage, weshalb? Wirst du mit dieser Aggression denn Gewalt ausüben und jemanden schwer verletzen? Oder hast du Angst vor den Konsequenzen, „Bestrafungen“ wie Liebesentzug oder Kritik? Wenn dich erste Frage anspricht, so lehnst du wahrscheinlich das Männliche ab. Und wenn dich die zweite Frage anspricht: So ist dein Wert, deine Männlichkeit abhängig von der Anerkennung durch Frauen. Ihre Reaktion ist für die der Massstab für deine Männlichkeit und du steckst mittendrin in deiner Sozialisierung durch Frauen. Und auch hier: Meistens wirkt beides gleichzeitig und bedingt sich gegenseitig.

Ja, sogar beim Schreiben dieser Zeilen besucht mit noch ein unangenehmes Gefühl: Die Angst vor der Ablehnung des Inhalts und die Kritik durch weibliche Leser, obwohl ich hinter jedem Wort stehe. So tief sitzt das in mir. Und das Bewusstsein dieses Gefängnisses macht mich aggressiv. Diese Aggression hilft mir, mutig zu den Worten zu stehen und sie zu publizieren.

Eine Antwort auf „Der Anti-Macho“

Äusserst beeindruckend, was da steht. ‼️ Respect ‼️ Ich stelle mir eine Welt vor, in der mehr dieser Gedanken Platz finden und neue Handlungen vollzogen werden. Und ich will mir ausmalen, wie dieses authentische Mann- oder eben Menschsein die Augenhöhe neu definiert. Es befreit. Es fühlt sich mutig an. Meine Gedanken führen mich zu meinen Kindern. Ich kann säen und reifen lassen. Sie sollen diese neue Welt erfahren und (noch) mehr gegen den gesellschaftlichen Strom schwimmen lernen. Ich will sie dabei begleiten und Verantwortung leben. Es braucht dieses neue Mindset. Danke für die kraftvollen Aussagen. Tut krass gut. ?

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